Ein tiefgründiges Porträt über biodynamischen Weinbau, die Wiederentdeckung der Kulturlandschaft und den leisen Heldentum eines Winzers, der nicht konsumiert, sondern kultiviert.
Der Hof als Chronist
Man muss den Blick heben, um die Wahrheit dieses Ortes zu erfassen. Wer durch das Kremstal streift, wo die Donau das Licht spiegelt und Terrassen an den Hängen lehnen wie Notizen einer alten Handschrift, ahnt nicht sofort, dass sich hier ein Kapitel europäischer Kulturgeschichte verdichtet.
Der Lesehof Stagård, erbaut 1424 auf Fundamenten, die mehr als ein Jahrtausend alt sind, ist ein Speicher kollektiver Erfahrung. Seit 1786 liegt dieser Ort in den Händen einer Familie, deren Adern nicht nur Blut, sondern auch Wein führen. Ein Mikrokosmos, in dem Generationen nicht nur Reben, sondern Verantwortung pflanzten.
Terroir als Charakterstudie
„Der Boden denkt mit“, sagte Rudolf Steiner. Im Lesehof ist dieser Satz keine Metapher, sondern gelebte Praxis.
Die Lagen Pfaffenberg, Steiner Hund, Gaisberg, Schreck und Braunsdorfer sind geologische Spiegelräume: Glimmerschiefer, Gneis, Löss, Urgestein, Konglomerate. In ihnen lagert nicht nur Mineralität, sondern Geschichte in geologischer Sprache. Die Reben wurzeln tief in Böden, die älter sind als jedes Menschenleben. Der Riesling, den Urban Stagård hier vinifiziert, ist Ausdruck einer Alchemie aus Klima, Stein und Zeit.
Biodynamie als Form kultureller Selbstachtung
Seit 2005 wird biologisch, seit 2020 biodynamisch nach DEMETER-Standards gearbeitet. Das bedeutet: Keine Pestizide, keine Kunstdünger, keine Trennung zwischen Pflanze und Kosmos. Präparate aus Schafgarbe, Baldrian, Hornkiesel. Mondzyklen als Rhythmen. Regenwürmer als Mitarbeiter.
Dieser Ansatz ist keine Romantik, sondern eine radikale Rückbindung an uralte agrikulturelle Intelligenz. Er schützt Böden, stärkt Mikroorganismen, macht die Reben resilient gegenüber Klimastress. Und: Er sichert Generationen ein lebenswertes Erbe.
Wein als kulturelles Versprechen
Urban T. Stagård spricht nicht von Produktlinien, sondern von „Erzählformen“. Seine Weine sind keine Marken, sondern Erzählungen in flüssiger Form: vom Südhang, der die Hitze speichert, vom Morgentau, der die Beeren kühlt. Manche Weine laden zum Tanz, andere zur Kontemplation. Gemeinsam ist ihnen der Widerstand gegen Beliebigkeit.
Er keltert nicht für Märkte, sondern für Menschen, die schmecken wollen, woher sie kommen. Seine Vision: Weine, die sich nicht erklären müssen – weil sie erinnern.
Die Landschaft als Mitspielerin
Kulturlandschaft ist ein unterschätzter Begriff. Er beschreibt nicht nur eine geformte Natur, sondern ein Verhältnis: zwischen Mensch, Tier, Pflanze und Zeit. Der Lesehof ist in diesem Sinne ein Ort, der Landschaft nicht nutzt, sondern mit ihr lebt. Trockensteinmauern, Wildkräuter, alte Rebsorten. Hier wird nicht gestaltet, hier wird übersetzt: das Flüstern des Bodens in sensorische Wahrheit.
Die Biodiversität, die dieser Hof schützt, ist nicht nur ökologisch – sie ist kulturell. Jedes Insekt, jede Bodenpilzstruktur, jedes Flechtenmosaik erzählt: Wir sind noch da, weil jemand uns Raum lässt.
Für kommende Hände
„Ich arbeite für Kinder, die ich nie kennenlernen werde“, sagt Urban. Diese Weitsicht ist das eigentliche Kapital des Hofes. Jeder Hang, der ohne Chemie bestellt wird, jede Parzelle, die regenerativ bewirtschaftet wird, ist ein Versprechen an die Zukunft.
Denn dieser Hof ist nicht nur eine Quelle großartiger Weine, sondern ein Labor für eine andere Art von Wirtschaft: leise, respektvoll, generationenfähig. Nachhaltiger Weinbau wird hier zur ethischen Haltung.
Resümee: Zwischen Rebe und Ruf
Der Lesehof ist ein Ort der Dichte – nicht der Fläche. Ein Hof, der zeigt, dass echte Größe nichts mit Masse zu tun hat, sondern mit Tiefe. Urban Stagård steht exemplarisch für eine neue Winzergeneration: Philosophisch, bodenständig, global vernetzt und dennoch in der Region verwurzelt.
Was hier wächst, sind nicht nur Weine – sondern Werte.