Haben oder Sein von Erich Fromm – Wie diese Philosophie uns im Alltag unterstützen könnte

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Ein Streifzug durch die Seele des modernen Menschen – zwischen Besitz, Bedeutung und dem tiefen Hunger nach echtem Leben.

Die stille Sehnsucht nach dem Sein

Du kennst dieses Gefühl: Alles läuft, du hast erreicht, was du wolltest, und doch bleibt da diese Leere. Ein leises Unbehagen zwischen Kreditkartenlimit, Karrierezielen und dem nächsten Selfie. Genau hier beginnt Erich Fromms zentrale Frage zu brennen wie ein moralischer Kompass im Nebel: Willst du haben – oder sein?

Fromm, der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker, Humanist und Gesellschaftskritiker, schrieb sein Werk „Haben oder Sein“ 1976, doch seine Worte wirken heute fast prophetisch. Er sah voraus, was unsere Konsumkultur aus uns machen würde: Menschen, die Dinge anhäufen, um ihre innere Leere zu kaschieren. Menschen, die verlernt haben zu sein – einfach, lebendig, authentisch. Seine Diagnose war klar: Wir sind reich an Besitz, aber arm an Sinn.

Das Prinzip des Habens – die süße Falle des Besitzes

Das Haben, so Fromm, ist eine Form des Daseins, die auf Besitz, Kontrolle und Sicherheit beruht. Du definierst dich darüber, was du hast: dein Smartphone, dein Jobtitel, dein Auto, dein Image. Das Problem? Alles, was du hast, kann dir genommen werden. Besitz wird so zum Gefängnis der Angst.

Fromm beschreibt diese Haltung als „existenzielle Unsicherheit“. Der Mensch im Haben-Modus glaubt, dass Glück durch Erwerb entsteht. Doch jedes neue Objekt, jede neue Erfahrung verliert bald ihren Glanz. Die Leere bleibt – und verlangt nach mehr. So dreht sich das Rad der Selbstentfremdung unaufhörlich weiter. Heute nennen wir es Konsumismus, Burn-out oder digitale Abhängigkeit. Die Begriffe haben sich geändert, aber das Prinzip ist dasselbe geblieben. Das Haben zieht uns in den Bann einer Welt, in der Identität zur Ware wird und Likes zur Währung der Selbstbestätigung.

Das Prinzip des Seins – die Wiederentdeckung des Lebens

Im Gegensatz dazu steht das Sein. Es ist flüchtig, verletzlich, frei. Sein bedeutet: in Beziehung treten – zu dir selbst, zu anderen, zur Welt. Du bist nicht durch das, was du besitzt, sondern durch das, was du erfährst, fühlst, gibst.

Fromm spricht von einer „produktiven Orientierung“, einer Haltung der Achtsamkeit und Liebe. Sein heißt: wahrnehmen statt konsumieren. Erleben statt besitzen. Geben statt horten. Im Sein öffnet sich der Mensch dem Leben, der Natur, der Kunst, dem Mitmenschen. Er erkennt sich nicht als isoliertes Ego, sondern als Teil eines größeren Zusammenhangs.

Diese Haltung erinnert an buddhistische Lehren, an Sufismus, an die Mystik westlicher und östlicher Traditionen gleichermaßen. Fromm war interdisziplinär lange bevor das Wort Mode wurde: Psychoanalyse trifft auf Spiritualität, Soziologie auf Ethik. Er verband Freud mit Marx, Mystik mit Materialismus – und suchte inmitten all dessen das wahre Selbst.

Kulturübergreifende Spiegelungen – Vom Zen bis zur Zivilisation der Liebe

In Japan nennt man es Ikigai – der Grund, morgens aufzustehen.
Im Christentum heißt es: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“
In der modernen Psychologie: Selbstwirksamkeit.

Fromm erkannte, dass alle großen Weisheitstraditionen denselben Kern teilen: das Sein als lebendige, schöpferische Energie. Er sah die Parallelen zwischen Zen-Meditation und produktiver Liebe, zwischen dem Weg zur Erleuchtung und dem psychologischen Prozess der Individuation. Das Sein ist kein Besitz, sondern ein Strom. Du kannst es nicht festhalten, du kannst nur darin leben. Es ist Musik, nicht die Partitur. Beziehung, nicht Vertrag. Begegnung, nicht Performance.

Die Krise des modernen Menschen – Digitale Masken und verlorene Intimität

Heute leben wir in einer paradoxen Zeit: Noch nie waren wir so vernetzt – und doch so entfremdet. Wir besitzen mehr Wissen als jede Generation vor uns, aber weniger Weisheit. Wir kommunizieren permanent, aber selten ehrlich.

Fromm hätte die sozialen Medien als perfekte Verkörperung des Haben-Modus erkannt: Profil statt Persönlichkeit. Sichtbarkeit statt Authentizität. Das Ich als Marke.
Wir haben Freunde, statt in Freundschaft zu sein. Wir posten Gefühle, statt sie zu leben.

Psychologisch betrachtet führt das zu einer Entleerung des Selbst. Der Mensch verliert seine Fähigkeit zur Stille, zum Staunen, zum echten Kontakt. Das Haben produziert Lärm – das Sein Stille. Und in dieser Stille liegt Heilung.

Das Sein als revolutionärer Akt

Fromm sah das Sein nicht als Rückzug, sondern als Revolution. Sein bedeutet Widerstand gegen die Entmenschlichung. In einer Gesellschaft, die Besitz glorifiziert, ist Authentizität subversiv. Wer sich dem Haben verweigert, wird zum Rebellen der Seele.

Fromm fordert eine „neue Gesellschaft der Liebe“ – nicht sentimental, sondern existenziell. Eine Kultur, die Wachstum nicht in BIP misst, sondern in Bewusstheit. Eine Ökonomie, die Kooperation über Konkurrenz stellt. Eine Bildung, die Neugier statt Anpassung lehrt.

Sein ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Denn nur wer ist, kann frei handeln. Nur wer frei ist, kann lieben. Und nur wer liebt, kann die Welt verändern.

Psychologische Tiefe – Vom Ich zum Wir

In der Tiefe dieser Philosophie liegt ein psychologisches Paradox: Das Ich, das festhalten will, verliert sich. Das Ich, das loslässt, findet sich. Fromm beschreibt dies als den Übergang von der „Besitzorientierung“ zur „Seinsorientierung“.

Es ist ein Prozess der Ent-Identifikation: Du erkennst, dass du mehr bist als deine Rollen – Sohn, Mutter, Angestellter, Influencer. Sein heißt: du darfst unvollkommen, verletzlich, menschlich sein. Darin liegt die größte Würde.

Und plötzlich verwandelt sich dein Alltag in ein Feld der Achtsamkeit: Ein Gespräch wird zu Begegnung, Arbeit zu Ausdruck, Schweigen zu Musik. Das Sein entfaltet sich überall, wo du präsent bist.

Interdisziplinäre Perspektive – Von Neurobiologie bis Nachhaltigkeit

Auch die moderne Wissenschaft holt Fromm ein. Neurobiologische Studien zeigen, dass Mitgefühl, Dankbarkeit und Verbundenheit messbar Glückshormone aktivieren. Nachhaltigkeitsforschung bestätigt: Menschen mit weniger Konsum, aber höherem Sinnempfinden leben gesünder, länger, erfüllter.

Die Wirtschaft beginnt, Fromms Gedanken zu adaptieren: Gemeinwohlökonomie, Kreislaufwirtschaft, soziale Innovation – alles Ausdruck des Übergangs vom Haben zum Sein. In der Psychotherapie spricht man von „Being-oriented therapy“ – vom Dasein als Heilungsweg.

Fromm wäre begeistert, dass seine humanistische Vision langsam empirische Wurzeln schlägt.

Emotionale Resonanz – Das Sein will gelebt werden

Vielleicht spürst du es selbst: Die Müdigkeit des Habens. Das diffuse Gefühl, dass Erfolg ohne Bedeutung keinen Halt bietet. Das Sein ruft – leise, aber beharrlich.

Es beginnt mit kleinen Gesten: Zuhören ohne Absicht. Gehen ohne Ziel. Arbeiten mit Hingabe. Lieben ohne Besitzanspruch. Das Sein ist nicht kompliziert – nur ungewohnt.

Und während du das liest, passiert vielleicht schon etwas: Ein Atemzug wird bewusster, ein Gedanke klarer. Das ist der Anfang. Der Weg vom Haben zum Sein beginnt immer jetzt.

Fazit – Erich Fromms Erbe für eine neue Menschlichkeit

Fromm war kein Romantiker, sondern Realist mit Vision. Seine Diagnose war radikal: Eine Gesellschaft, die nur haben will, zerstört sich selbst. Seine Therapie ebenso: Eine Kultur des Seins – der Liebe, der Freiheit, der Verantwortung.

Heute, im Zeitalter von Klimakrise, KI und digitaler Selbstoptimierung, ist „Haben oder Sein“ aktueller denn je. Fromm erinnert uns daran, dass Bewusstsein das größte Kapital ist, das wir besitzen – und teilen können.

Wir brauchen keine neuen Götter, sondern neue Gewohnheiten. Keine größeren Datenmengen, sondern tiefere Wahrnehmung. Keine künstliche Intelligenz ohne menschliche Weisheit.

Call to Action – Sei mehr, hab weniger

Beginne heute.
Sprich, wenn du fühlst.
Hör zu, ohne zu urteilen.
Umarme, ohne zu fordern.
Lebe, ohne dich zu vermessen.

Das Sein wartet nicht auf bessere Zeiten – es geschieht in diesem Moment. Und vielleicht, wenn du still wirst, hörst du Fromms leise Stimme im Hintergrund:
„Nur wer sein will, kann wahrhaft lieben.“

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